Selected Works 'Ausgewählte Werke'

Residence of the German Ambassador 

Herrn Botschafter Wenzel, Agnes Kontra, György Dragomán Schriftsteller 

 

 

Dragomán György

Visionär

Wir werden mit meinem Bruder Visionär spielen.
Ich schließe meine Augen, mein Bruder schließt seine,

er hält sein Gesicht der Sonne zugewandt, die Sonne scheint durch seine Augenlider, durch die Haut und Schichten, durch die Wände der Blutgefäße, durch das Gewebe der Muskeln, durch die Membranen der Zellen, durch die feinen Membranen, durch die Netzhaut, die Pupille, durch das Wasser der Augenhallen,

entzündet einen Lichtkreis hinter seinen Augenlidern, rotes Licht
schwarze Flamme,
ich spüre,

ich sehe.

Ich stehe mit meinem Rücken der Sonne zugewandt, meinem Bruder zugewandt, kein Licht berührt mein Gesicht, mein Augenlid wird von keinem Licht berührt, doch hinter meinem Augenlid wird das sichtbar, was die geschlossenen Augen meines Bruders sehen, ich kann es kaum sehen, ich fühle es nur,

schwach sanft

Wir sind weit voneinander entfernt,

aber wir bewegen uns langsam aufeinander zu,

Schritt für Schritt

sich dem anderen nähern,

Wenn wir dann jeweils den Rücken des anderen berühren, halten wir an und fassen unsere beiden Arme zusammen und fangen an, uns zu drehen.

zuerst langsam, dann schneller, dann noch schneller, dann noch schneller, noch mehr, noch mehr, noch schneller
dann, wenn wir es nicht länger aushalten

Zwischen die Bilder von Ágnes Kontra

fallen wir zum Boden, während wir uns gegenseitig den Rücken entgegenstemmen.

Die Dunkelheit wirbelt und dreht sich hinter unseren Augenlidern, das Licht wirbelt und dreht sich hinter unseren Augenlidern, unsere Füße ruhen auf dem Boden, und Wirbelsäule, Rücken und Schultern werden so stark gegeneinander gedrückt, dass wir wissen, wenn wir wollten, könnten wir sogar sofort, gemeinsam aufstehen,

taumelnd, sich stemmend, ich stelle mir vor und weiß, dass mein Bruder es sich vorstellt, fast als ob es passiert wäre,

wir stehen aber nicht auf, sondern sitzen nur und fühlen den Rücken des anderen auf unserem Rücken, die Schulter des anderen auf unseren Schultern, wir sagen nichts, sondern sitzen nur und warten, bis der Schwindel vergeht und unser Atmen sich so einstellt, dass während ich einmatme, mein Bruder ausatmet, und während ich ausatme, mein Bruder einatmet,

schön langsam, schön langsam, schön langsam,

man muss auf das Atmen aufpassen, aber nicht daran denken, denn wenn ich daran denke, muss ich an den Körper meines Bruders denken,

an seinen Rücken hinter meinem Rücken,
und an seine Rippen hinter meinen Rippen,
und an seine Lunge hinter meiner Lunge,
und an sein Herz hinter meinem Herzen,
und dann würde auch er an meinen Körper denken,

das wäre ein anderes Spiel, das Körperspiel, wir spielen es nicht mehr, weil es zu schmerzhaft ist, damit aufzuhören, denn wenn wir aufstehen und voneinander weggehen, haben wir das Gefühl, dass unsere Arme abgeschnitten, unsere Schultern abgeschnitten, unsere Köpfe abgeschnitten worden sind,

wir haben also eine Weile nicht mehr das Körperspiel gespielt und werden es auch nicht mehr spielen,

aber natürlich denken wir beide ein wenig darüber nach, wie gut es war, als wir das noch spielen konnten, so dass es nicht weh tat, wenn wir uns sogar trennen und verbinden konnten, ohne zu wissen, was die Verbindung war oder was die Trennung war, weil es nicht weh getan hat, es ist einfach passiert,

aber wir wissen beide, dass das Körperspiel bereits zu schmerzhaft geworden ist und dass wir das jetzt nicht mehr spielen können, also sollten wir jetzt nicht an den Körper des anderen denken, sondern nur sitzen und warten, bis sich unser Atmen harmonisiert, und wenn wir endlich langsam atmen, fangen wir an zu sehen

einer von uns öffnet die Augen,

wir wissen nicht, welcher von uns, entweder ich, oder mein Bruder, es spielt keine Rolle, denn wir sehen gleichzeitig, als ob ich durch seine Augen, und er durch meine Augen sehen würde, auch wenn meine die seinen sind, und die seinen die meinen sind,

das ist die Essenz des Visionärspiels, wir sehen auch zu anderen Zeiten, ja, immer wenn unsere Augen offen sind, immer, aber das ist jetzt nicht so, es ist kein einfaches Sehen, es ist mehr und weniger, es ist anders, es ist wie zum ersten mal, auch wenn wir es wissen, dass es schon oft passiert ist, trotzdem zum ersten mal, zum allerersten mal, zum aller-allerersten mal.

Egal, was vor uns liegt, sagen wir eine alte Straßenkurve oder der dunkle Laubwald, der sich zum Himmel erhebt, der Schatten der Sonne oder der glänzende Abdruck eines Vollmonds oder ein Stück Treibholz, das von der Strömung an den Sand gespült worden ist, wenn wir Visionär spielen, ist es egal, was wir sehen, es zählt nur, dass wir sehen, sowohl durch unsere eigenen Augen als auch durch die Augen des anderen, die Realität scheint, sie lässt uns zwinkern, strahlt das Licht in unsere Augen,

alles ist alt und alles ist neu, jede Oberfläche ist tiefer als sie selbst, neue Schichten unter den Schichten und noch weitere Schichten, genau wie das Schwarz des Weltraums hinter dem Blau des Himmels, es ist nur schwer zu sehen, genau wie das Weiß des Sandes da ist mit dem Rot der Tonerde dahinter, es ist nur schwer von hinten durchzusehen,

ich sehe das, wenn ich es durch die Augen meines Bruders sehe, und er sieht das, wenn er durch meine Augen sieht, gleichzeitig die Oberfläche als auch die Tiefe, die Welt ist sehr alt und sehr jung, wenn wir Visionär spielen, sehen wir nichts als ob wir alles sehen würden, und wir sehen alles als ob wir nichts sehen würden, wir sehen das nichts als etwas,

das ist das Visionärspiel,
wenn wir gleichzeitig von der Nähe und von der Ferne sehen,
dies,
wenn wir durch die Augen des anderen in diesen Spalt hineinsehen, der das bestehende und das nicht existierende voneinander trennt, das etwas und das nichts.

Wir sitzen mit meinem Bruder, im Rhytmus der Atemzüge des anderen, einer macht die Augen zu, der andere öffnet seine im gleichen Augenblick, wir spielen Visionär, wir sehen alles und wir sehen nichts.